H. Bossard-Borner: Im Spannungsfeld von Politik und Religion

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Titel
Im Spannungsfeld von Politik und Religion. Der Kanton Luzern 1831 bis 1875


Autor(en)
Bosshard-Borner, Heidi
Reihe
Luzerner Historische Veröffentlichungen 42
Erschienen
Basel 2008: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
2 Teilbände, 921 S., 50 Abb., davon 4 in Farbe, 52 Tab., 6 Grafi
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rolf Weibel

Mit den beiden vorliegenden Teilbänden liegt der Mittelteil der als Triptychon konzipierten Luzerner Kantonsgeschichte des 19. Jahrhunderts vor. Im vor zehn Jahren erschienenen ersten Teil hat Heidi Bossard-Borner unter dem Titel «Im Bann der Revolution» die ersten Jahrzehnte dargestellt und die für die erste Jahrhunderthälfte charakteristischen sozioökonomischen Entwicklungslinien bis 1850 ausgezogen; im dritten Teil sollen dann die langfristigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse der zweiten Jahrhunderthälfte thematisiert werden. Deshalb, aber bei weitem nicht nur darum liegt im Mittelteil der Schwerpunkt auf der Politik. In der dargestellten Zeit vom Beginn der Regenerationszeit bis zur kantonalen Umsetzung der Bundesrevision von 1874 ist die Politik vorherrschend, und die politische Geschichte, nicht zuletzt die Ereignisse der Freischaren- und Sonderbundszeit, beherrscht auch das Gedächtnis der Nachgeborenen. In den Konflikten, die zum Sonderbundskrieg führten, spielte die Kirchenpolitik eine zentrale Rolle. Die Kirchenpolitik prägte und bestimmte überhaupt in allen entscheidenden Krisen, die der Kanton Luzern zwischen 1831 und 1875 zu bestehen hatte, das politische Leben.

«Im Spannungsfeld von Politik und Religion» stand nicht nur die Zeit, sondern stand und steht auch die wirksame Erinnerung an diese Zeit. Als erfahrene Historikerin weiss Heidi Bossard-Borner, dass die Wahrnehmung der Vergangenheit durch vorgegebene Meistererzählungen mit ihren Deutungsmustern geprägt ist. Für die Luzerner Kantonsgeschichte des 19. Jahrhunderts denkt sie insbesondere an «die Ausrichtung des politischen Systems auf den konservativ-liberalen Gegensatz, die Polarität von bäuerlich-konservativem ‘Volk’ und bürgerlich-fortschrittlicher ‘Elite’», von kirchentreuen Konservativen und antiklerikalen Liberalen, aber auch [an] die Verbindung von Katholizismus und wirtschaftlicher Rückständigkeit» (S. 18). Weil sie aber eine Kantonsgeschichte schreiben wollte, von der das Publikum mit Recht Informationen über die Geschichte des Staates und der in diesem Staat wirksamen Kräfte erwarten dürfe, blieb sie dennoch bei der herkömmlichen Gattung der politischen Geschichte mit einer Chronologie, die den wechselnden Mächteverhältnissen folgt. Um die damit vorgegebenen Deutungsmuster kritisch hinterfragen zu können, wandte sie dabei eine besondere Aufmerksamkeit für die Brüche und Zufälligkeiten auf.

So orientiert sich der Aufbau der beiden Teilbände an der politischen Chronologie des Kantons Luzern, wobei in diesem Rahmen auch die für Luzern bedeutsamen Vorgänge in anderen Kantonen und im Bund einbezogen werden. Der erste Teilband umfasst die liberale Regeneration 1831 bis 1841, die konservative Sonderbundszeit 1841 bis 1847 und die Anfänge des liberalen Regimes nach dem Sonderbundskrieg. Der zweite Teilband behandelt die liberale Zeit, die mit dem konservativen Wahlsieg 1871 beendet wurde, und die konservative Zeit bis 1875, als das Ergebnis der Nationalratswahlen belegte, wie stabil die parteipolitische Landschaft des Kantons Luzern geworden war. Auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die im ersten und dritten Teil des Triptychons eingehender dargestellt wurden bzw. werden sollen, wird im vorliegenden Mittelteil nur soweit eingegangen, wie es zum besseren Verständnis der politischen Geschichte erforderlich ist.

Der liberal-konservative Gegensatz zeigte sich in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen als Widerstreit zwischen einem liberalen Staatskirchentum und einer konservativen Kirchlichkeit. Neu an diesem Widerstreit war, dass die strittigen Fragen zwischen Staat und Kirche politisiert wurden, das heisst Kirchenpolitik wurde ein Thema, das nicht mehr nur Politiker und Geistliche beschäftigte, sondern das ganze Volk, und nicht nur die Stimmbürger. So lässt sich dieser Konflikt auch als Gegensatz zwischen liberaler Politik und «katholischem Kirchenvolk» deuten, wobei sich auch die Vertreter dieser Politik im Kanton Luzern, selbst die Antiklerikalen, als Katholiken verstanden. Denn «der Ort dieses liberalen Antiklerikalismus luzernischer Ausprägung war innerhalb der katholischen Kirche, nicht ausserhalb» (S. 758). Deshalb hatte dann in den 1870er Jahren die Opposition gegen die Papstdogmen des Ersten Vatikanischen Konzils auch keinen nachhaltigen Erfolg. Dem Verein freisinniger Katholiken war es trotz anfänglich breiter Unterstützung nicht gelungen, die Kirchgemeinde der Stadt Luzern in eine christ-katholische Kirchgemeinde überzuführen.

Anderseits bemühten sich die besonnenen Konservativen, den Standpunkt des «katholischen Luzernervolkes» konsequent zu vertreten, ohne die Liberalen zu provozieren und ohne die «Ultramontanen», die betont papstreuen Katholiken, zu unklugem Handeln zu ermutigen; denn es galt, eine neue Sonderbundspolitik zu verhindern. Dabei wurden sie von kirchenamtlicher Seite nicht immer unterstützt; der bedeutendste Kopf der Luzerner Konservativen, Philipp Anton Segesser, klagte 1875 denn auch: «Ich weiss nicht, ist es ein Spiel des Zufalls oder ein Verhängniss, dass immer in Momenten, wo es uns am wenigsten dient, irgend eine päpstliche oder bischöfliche Manifestation dazwischen fährt» (S. 810, Anm. 458).

Manchen Vorgängen und Entwicklungen geht Heidi Bossard-Borner besonders eingehend nach. Damit ermöglicht sie, wie sie es sich vorgenommen hat, Einblick in Facetten des Zeitgeistes und in das Erleben der Beteiligten. So konnten beispielsweise die unmittelbar Betroffenen die kirchenpolitischen Streitigkeiten als dramatische Auseinandersetzung, als endzeitlichen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen interpretieren, während ihnen «aus historischer Warte oft etwas Kleinliches anhaftet» (S. 128). Historische Forschung leistet so ihren unverzichtbaren Beitrag zur Überprüfung der herkömmlichen Meistererzählung und damit zur heute nicht zuletzt von kirchenamtlicher Seite geforderten «Reinigung des Gedächtnisses» (Papst Johannes Paul II.: «purificazione della memoria»). Manches lässt sich allerdings nicht mehr klären; so müssen trotz vieler Quellen und Forschungsarbeiten verschiedene Fragen zur Jesuitenberufung unbeantwortet bleiben. Heidi Bossard-Borner hat in ihrem «opus magnum» aussergewöhnlich viele Informationen verarbeitet; dass der eine oder andere kleine Fehler stehen geblieben ist, ist verständlich und schmälert ihr grosses Verdienst in keiner Weise.

In der «Einleitung» und im «Schluss» überblickt sie das Geschehen zwischen 1831 und 1875 in seiner inneren Logik, sie erwägt Zusammenhänge namentlich zwischen Politik und Kirchenpolitik, Politik und Wirtschaft. Neben den üblichen Verzeichnissen und Registern bietet der grosse Anhang mit den Tabellen zusätzliche Daten zur Kantonsgeschichte.

Zitierweise:
Rolf Weibel: Rezension zu: Heidi Bossard-Borner: Im Spannungsfeld von Politik und Religion. Der Kanton Luzern 1831 bis 1875. Basel, Schwabe Verlag, 2008. (Luzerner Historische Veröffentlichungen, Band 42). Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 3, 2009, S. 368-370.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 3, 2009, S. 368-370.

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